Sexueller Missbrauch
Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs (von Kindern, aber auch Jugendlichen, Schutzbefohlenen etc) gehören mit ihren Bezügen zur (Aussage)Psychologie, Psychiatrie und Rechtsmedizin zu den komplexesten im Strafrecht. So vielschichtig und unterschiedlich die gesetzlichen Tatbestände ausgestaltet sind, so diffizil und so verstrickt die Sachverhalte und die psychischen Befindlichkeiten der Beteiligten sich häufig darstellen, so umfangreich und differenziert ist auch das Instrumentarium an Verteidigungsmöglichkeiten, die gerade in diesem sensiblen Bereich gezielt und vor allem zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden müssen um die angestrebte Wirkung zu erzielen. Hierbei steht für uns die konfrontative, auf Freispruch bzw Verfahrenseinstellung gerichtete Verteidigung stets im Vordergrund. In Fällen, in denen dies nicht realistisch zu verwirklichen ist (z.B. weil bereits ein Geständnis vorliegt), muss durch besondere Verteidigungsstrategien dafür gesorgt werden, dass trotz der hohen gesetzlichen Mindeststrafen die Möglichkeit einer Bewährung eröffnet wird
Die praktisch bedeutsamsten Tatbestände befinden sich in den §§ 176 (sexueller Missbrauch von Kindern) und 176c (schwerer sexueller Missbrauch) StGB.
Unter Strafe gestellt sind ausnahmslos jedwede sexuellen Handlungen mit Personen unter 14 Jahren – wobei Täter nicht nur Erwachsene sein können: So ist vom Gesetz z.B. auch der Kuss eines 14-jährigen mit seiner 13-jährigen Freundin erfasst.
Wichtig ist die Abgrenzung des „einfachen“ sexuellen Missbrauchs (§176) vom sog. „schweren sexuellen Missbrauchs“ des § 176c StGB: Während ersterer noch Bewährungsstrafen ermöglicht, sieht § 176c im Regelfall Freiheitsstrafen von mindestens 2 Jahren (pro Fall) vor, so daß eine Bewährungsstrafe grundsätzlich nicht mehr möglich ist und nur durch besondere Verteidigungsstrategien erreicht werden kann.
§ 176c StGB (schwerer sexueller Missbrauch von Kindern) ist insb. dann gegeben, wenn die sexuelle Handlung „mit einem Eindringen in den Körper verbunden“ ist. Erfasst werden damit nicht nur (vaginaler) Geschlechtsverkehr sondern auch Anal- und Oralverkehr, aber auch das Eindringen mit dem Finger oder anderen Gegenständen auch wenn es nur wenige cm oder kurzzeitig erfolgt und unabhängig davon, ob hierbei in den Körper des Kindes oder umgekehrt, in den des Täters eingedrungen wird.
Ein Hauptaugenmerk der Verteidigung in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs wird daher darauf gerichtet sein, daß möglichst ein „Eindringen“ nicht nachgewiesen werden kann.
Der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen (also an Personen zwischen 14 und 18 Jahre), § 182 StGB führt hingegen ein Schattendasein. Dies liegt zum einen daran, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für die Staatsanwaltschaft oft schwer zu beweisen sind: Vorausgesetzt wird – vereinfacht gesprochen – eine unlautere Verführungssituation durch den Täter, also etwa das Ausnützen einer Zwangslage oder das Gefügigmachen durch Alkohol oder Geldzuwendungen aber auch der Unerfahrenheit oder Naivität. Auch ist der gesetzliche Strafrahmen des § 182 StGB verhältnismässig moderat und ermöglicht u.U. sogar noch Geldstrafen.
Zu beachten ist jedoch, daß bereits jedes Verhältnis eines über 21jährigen mit einer Person unter 18 per se ausreicht um einen sog. „Anfangsverdacht“ zu begründen und damit ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden kann. Dies allein rechtfertigt eine Hausdurchsuchung, die häufig (allein) zu dem Zweck erfolgt, ggf kinder- oder jugendpornografisches Material beim Betroffenen sicherzustellen oder Anhaltspunkte für weitere/andere Straftaten zu ermitteln.
Handelt es sich bei dem Täter um eine familiäre Bezugsperson oder aber um einen Lehrer, Ausbilder, Erzieher, greift indes § 174 StGB (sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen), der wiederum hohe Freiheitsstrafen vorsieht. Insofern wird also die Verteidigung in erster Linie versuchen müssen, das Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses in Frage zu stellen.
Allen Verfahren wegen sexuellem Missbrauchs ist jedoch gemein, daß meist „Aussage gegen Aussage“ steht und wichtigstes und meist einzigstes „Beweismittel“ die Aussage des vermeintlichen Opfers selbst ist. Kern der Verteidigung ist daher die Erschütterung der Glaubhaftigkeit bzw Zuverlässigkeit der Belastungsaussage: Dies macht derartige Verfahren extrem aufwändig: Denn es muss herausgearbeitet werden, welche Fehlerquellen und Verfälschungsfaktoren im jeweiligen Fall in Betracht kommen und sodann müssen diese „Alternativhypothesen“ juristisch so aufbereitet und in Form von Anträgen in das Verfahren eingebracht werden, daß das Gericht gezwungen wird, sich hiermit im Rahmen der Urteilsfindung auseinanderzusetzen.
Hierbei ist nicht nur die Hypothese, daß die Anschuldigung bewusst falsch und in Schädigungsabsicht falsch erhoben ist (Lüge, Komplott) – was häufig vor dem Hintergrund von Scheidungen oder Sorgerechtsstreitigkeiten der Fall ist – zu erörtern. Praktisch mindestens ebenso bedeutsam sind irrtümliche Verfälschungen der Aussage durch Suggestionen/Autosuggestionen, psychische (Wahrnehmungs)Störungen oder langjährige Traumatherapien etc. Daher muss die Entstehungsgeschichte und Entwicklung der Aussage aufgeklärt werden, das Umfeld des vermeintlichen Opfers miteinbezogen und i.d.R. sämtliche Personen, mit denen das vermeintliche Opfer über die angeblichen Taten gesprochen hat, vernommen werden um insb. festzustellen, ob es Widersprüche zwischen den einzelnen Aussagen gibt.
Da Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte dazu tendieren, den Belastungsaussagen unkritisch Glauben zu schenken, muss die Verteidigung häufig selbst durch eigene Sachverständigengutachten die Schwachstellen in der Aussage aufdecken und die Justiz mit fachkundigen Expertisen konfrontieren.